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Besprechung der 1. Publikation
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"Es ist das Verdienst des Verfassers, sich eines Themas angenommen zu haben, das in seiner Heimat, soweit ich sehe, in der Weise, wie hier geschehen, bislang wenig zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht worden ist. Den Anstoß dazu, sich mit ihm zu beschäftigen, hat der Verfasser während seines Studiums an der freien Universität Berlin erhalten. Seine guten Deutsch-, Persisch- und Türkisch -Kenntnisse haben es ihm ermöglicht, die in diesen Sprachen vorhandene Literatur und Quellenmaterialien zu seinem Thema einzusehen und auszuwerten. Und ein längerer Aufenthalt im Iran nach dem Abschluss seines Studiums hat er dazu benutzt, um eigene Feldstudien in der Provinz Ost-Azarbaijan durchzuführen.Seine Dissertationsschrift ist in Fünf (5) Kapitel gegliedert, in:

I. Einleitung
II. Begriffsklärungen
III. Zur Geschichte des iranischen Nomadismus
IV. Schahsawan und die Ergebnisse der Feldstudie
V. Zusammenfassung

Die quantitativ umfangreiche Einleitung ergibt sich daraus, dass der Verfasser neben dem Nachweis der wissenschaftlichen Relevanz seines Themas und der von ihm benutzten Primär- und Sekundärquellen auch eine ausführliche Einführung in die infragestehende Problematik enthält. Ich halte diese naturgemäß überblicksartige Darstellung für sinnvoll und informativ; für den Verfasser insofern von Wert, als er darin die ihn leitenden Fragen entwickelt hat, für den Leser insofern, als dieser in diesem Teil der Arbeit mit historischen und aktuellen Informationen über die iranischen Nomadenstämme vertraut gemacht wird.

Im II. Kapitel behandelt der Verfasser explizit definitorische Fragen. Er bestimmt den Begriff "Nomade" sowie die geographische Ausbreitung und die verschiedenen Formen des Nomadismus, wie er insbesondere im "altweltlichen Trockengürtel" anzutreffen war und in Restbeständen auch heute noch anzutreffen ist. Die in diesem Kapitel erfolgten Begriffsklärungen, die der Verfasser gestützt auf neuere Literatur vorgenommen hat, erachte ich für eine notwendige Vorbereitung auf das, was dann im Hinblick auf den Iran im Detail untersucht wird.

Die im III. Kapitel, dem Hauptteil der Arbeit, folgende Darstellung des iranischen Nomadismus ist in 5 Abschnitte gegliedert. Was der Verfasser in diesem Teil der Arbeit unternommen hat, ist, erstens, anhand von für die Frühzeit spärlichen (vgl. seinen Hinweis auf Herodot), später zahlreichere aber immer noch sehr vagen Quellen die Rekonstruktion der Besiedlung des Iran durch nomadische Stämme. Zweitens hat der Verfasser das erst 1955 aufgefundene, am Anfang 18. Jahrhunderts verfasste sogenannte Persische Manuskript einsehen und für seine Untersuchung auswerten können, in welchem die zu jener Zeit im Iran vorhandenen Stämme sowie ihre Siedlungsgebiete aufgeführt sind. Drittens Untersucht der Verfasser, in exemplarischer Weise dargestellt am Untergang der Safawiden-Dynastie, warum die Stämme im Laufe der Geschichte der Zentralgewalt immer wieder ihre Loyalität entzogen und das Land dadurch in Krisen gestürzt haben, was er auf eine Identitäts- und, damit verbunden, Legitimitätskrise zurückführt. Was, viertens, den Niedergang nomadischer Wirtschafts- und Lebensweise angeht, so zeigt der Verfasser dessen Gründe auf, wie sie in der einschlägigen Literatur diskutiert werden. Abschließend, fünftens, behandelt er unter den Stichworten "Landflucht und Urbanisierung", "Beseitigung der Institution Stamm", "Einschränkung der Mobilität", "Verfall des Ansehens von Nomaden" und " Polarisierung der Gesellschaft" die Folgen der erst in unserem Jahrhundert, nach 1925, begonnenen staatlichen Ansiedlungspolitik.

Im IV. Kapitel hat der Verfasser die Ergebnisse seiner Feldstudien in der azarbaijanischen Grenzregion zusammengefasst. Er schildert zunächst die Geschichte, Herkunft und die traditionellen Wirtschafts- und Lebensform der dort überwiegend ansässigen Schahsawan-Nomaden, stellt deren Unterstämme (Taifeh) vor, und erläutert sodann die Ansiedlungspolitik der Regierung in diesem Gebiet, wobei das in den 50er und 60er Jahren realisierte große Bewässerungsprojekt, gespeist vom Wasser des mittleren Aras, die Aufmerksamkeit des Verfassers gefunden hat.

In seiner Zusammenfassung, dem V. Kapitel der Arbeit, hat der Verfasser vier (4) Thesen formuliert, welche

1.
die überraschende Stabilität und jahrhundertwährende Kontinuität der Stammesorganisationen im Iran betonen,
2.
Dies Spezifika der iranischen Gesellschaft auf ein Kräftegleichgewicht zwischen Staats- und Stammesmacht zurückführen, und,
3.
auf die Rolle der einstigen Nomaden/Halbnomaden in der islamischen Revolution von 1979 thematisieren, und
4.
der ökologisch und ökonomisch den geographischen Bedingungen angepassten, auf Tierhaltung und wechselnden Weidegebieten basierenden nomadischen Wirtschafts- und Lebensweise für die Geschichte des Iran mit seinen rund 200 ethnisch heterogenen Stämmen eine entscheidende Rolle zusprechen.

Ich sehe in dieser Untersuchung insbesondere aus zwei Gründen eine Pionierleistung. Zum einen, weil der Verfasser eine im Iran selbst kaum wissenschaftlich besetztes Thema in überaus eindrucksvoller, überzeugender Weise gemeistert hat. Und zum anderen, weil es ihm gelungen ist, gestützt auf zumeist westliche Literatur aus dem Bereich der Geographie, Ethnologie und Geschichte, eine politikwissenschaftliche Darstellung über die Rolle der Stämme in der iranischen Geschichte und ihre Ansiedlung durch iranische Regierungen vorzulegen, für die ich kein vergleichbares Beispiel kenne.

Wenn der Verfasser das von ihm nur in exemplarischer Weise behandelte Machtgleichgewicht zwischen Staatsmacht und Stammesmacht sowie die staatliche Ansiedlungspolitik umfassend und erschöpfend dargestellt hätte, dann wäre aus dieser Dissertationsschrift, die in der vorliegenden Form im besten Sinne des Wortes ein Prolegomenon ist, wohl ein Standardwerk über die Glanzzeit und den Niedergang des Nomadismus in seiner iranischen Hochburg geworden. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Ich traue es dem Verfasser zu.

An dieser Arbeit zu rühmen ist insbesondere der geschickte, kritische Umgang mit westlichen und einheimischen Quellen. Das Vorhaben des Verfassers, ein Bild von der bedeutsamen Rolle ethnisch ganz verschiedener Stämme in der iranischen Geschichte und von ihrem Niedergang im Zuge ihrer Sesshaftmachung zu geben, und im einzelnen zu belegen, ist ihm in eindrucksvoller Manier geglückt. Die Untersuchung erachte ich in Anlage und Ausführung wie in ihren Ergebnissen als eine überdurchschnittliche wissenschaftliche Leistung."

Professor H. Wagner, Berlin 1999.

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